15.06.08

LAUFEN UND FLIESSBAND

Was hat Laufen mit Fließband zu tun?
Es gibt Kulturkritiker, die meinen, dass die Freizeit den Charakter der Arbeit annimmt und vom selben Leistungsdruck und der gleichen Konformität beherrscht wird wie die Arbeitsverhältnisse.
Am Fließband zieht die Zeit gleichförmig vorbei, besteht aus sich immer gleich wiederholenden Tätigkeiten. Die Zeit ist ein langer gleichmäßiger Strang, der sich unterteilt in Stunden, Minuten, Sekunden.
Wenn ich meine 12 km-Runde laufe und auf die Uhr schaue, sehe ich km 1: 5 Minuten, Kilometer 2: 10 Minuten. Problemlos schaffe ich die Kilometer sekundengenau zu laufen. Oder wenn ich trainiere, denke ich an einen anstehenden Marathon, denke an Kilometer 25, Kilometer 30, wo es endlich spannend wird. Bis dahin ist es leicht, stetig zu laufen. Es läuft wie am Band und ich laufe wie eine Maschine.
Das Laufband ist reine Zeit und Bewegung. Die Strecke ist die Immergleiche. Es wird nur dadurch erträglich, dass man sich seine übliche Laufstrecke vorstellt: jetzt bin ich da, es sind noch so und so viele Kilometer bis zum Ziel.
Als Arbeiter am Band rechne ich meine Arbeitszeit in Lohn um, rechne, wie viel ich noch zu arbeiten habe, wann Halbzeit ist usw. Irgendwann verschwindet die Arbeit aus dem Vordergrund des Bewussteins und die Gedanken gehen anderswohin, Fantasien tauchen auf. Der Körper stellt sich auf die Zeiten ein. Was am Anfang unerträglich war, wird zur erträglichen Gewohnheit.
Wie am Band ist die Lauftätigkeit auf die Dauer einfach. Im Laufe der Zeit liegt der Reiz in der Abwechslung, in der Beschleunigung. Er macht die leere Routine wieder interessant. Wie am Fließband ist beim Laufen der Kopf relativ frei. Die Gedanken gehen ihre eigenen Wege, werden assoziativ, verlieren die logische Strenge, die bei Diskussionen, Gesprächen, beim Schreiben verlangt wird. Die Gedanken gehen auf Abwege, verlaufen sich.
Aber anders als am Band, wo die Arbeit hauptsächlich dadurch erträglich ist, dass ein Ende durch die Freizeit absehbar ist, gewinnt das Laufen Sinn durch den Wechsel der Umgebung, den Wechseln der Natur, durch das Vorwärtsbewegen in der Landschaft, das Aufkommen von Fantasien.
Sinn und Antrieb kommen beim Laufen von innen. Wir sind es, die uns bewegen. Wir steuern das Tempo, bestimmen Anfang und Ende.

Ich bin noch nicht zufrieden mit dem, was ich geschrieben habe. Ich habe von Ähnlichkeiten und Unterschieden geschrieben. Aber gibt es eine Beziehung? Das Fließband ist das Resultat einer hoch organisierten Arbeitsteilung. Lässt sich das auf einen Läufer übertragen? Ist er Teil einer Arbeitsteilung?
Gut, sein Gehirn ist entlastet, die Bewegungen sind automatisiert. Oft geht Laufen mit „Abschalten“, zerstreutem und unkonzentrierten Denken einher. Das bedeutet, dass das Zentrum der Motivation außerhalb des Läuferbewusstseins ist: Er läuft, weiß aber nicht warum. Die tausend Gründe, die sich nennen ließen, überzeugen mich nicht, schon deswegen weil es so viele sind. Augenscheinlich sind es recht zwecklose („spielerische“) Bewegungen, manchmal mit Fantasien begleitet, Selbstgesprächen oder imaginären Gesprächen, Tagträumen und ähnlichem, Körpererfahrungen, vielleicht Landschafts- und Naturerlebnissen. – Aber so, wie der Kopf der Arbeitsorganisation außerhalb des einzelnen Teilarbeiters, so ist auch hier der Läufer nur funktionierender Teil von etwas außerhalb seines Bewusstseins. Mag er es Ritual, Zwang, Gewohnheit, Fitnesskult, Gesundheitskultur, Natur und Ähnliches nennen.
Jetzt muss ich doch, wenn ich das Laufen so mystifiziere, ein Gedicht von Juan Ramón Jiménez zitieren, das für mich beschreibt, wie der Mensch in seinem Leben nicht mit sich selbst identisch ist und sich deswegen bewegen muss:

Ich bin nicht ich.

Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne daß ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

Vielleicht ist es eine Art „Körperseele“, die mich Laufen macht. Was das sein soll? Ich werde versuchen, das zu verstehen und ein andermal verständlich zu machen.

Keine Kommentare: