24.10.08

DER SPORTGOTT

Die Kritiker der Fitnesskultur haben sicher Recht, wenn sie die Ähnlichkeiten des Sports zur Religion hervorheben. Da gibt es zu viele Gemeinsamkeiten: die Bedeutung des Leidens, das Opfer, das Verlangen nach ewigem Leben („forever young“), der Glaube an die Heilkraft, der Glaube an die sozialisierende Funktion des Sports. Wie in der Religion gibt es Heilige und Wundertäter - wenn auch mit Chemie -, gibt es Hierarchien. Es gibt Not und Krankheit, von der der Sport erlösen soll, es gibt wie im Himmel die Jubelchöre in Stadien und Straßen für die Triumphierenden. Es gibt Faule und Fleißige, Gute und Böse. Das Gericht wartet auf die Läufer, die Uhr läuft ab.
Gut, da sind auch Unterschiede: die Diesseitigkeit der Anstrengungen, die Überprüfbarkeit durch Erfahrungen. Aber im Zentrum der Religion wie des Sports steht die Bemühung um das richtige Leben. Bei Paulus etwa heißt es: „Laufet, dass ihr gewinnet“ (1Kor9, 24-27)
Der Sportgott verlangt Disziplin, Schweiß, Opfer. Der erste Marathonläufer stirbt nach dem Lauf, genauso wie vor kurzem Franz Häusler in der Nacht nach seinem Deutschlandlauf.
Kampf, Gewinnen gehört zum Essentiellen von Religion und Sport. Irgendwann waren beide identisch. In „primitiveren“ Religionen ist „Gott“ identisch mit KRAFT. Der jüdische Gott ist einer, der seinem Volk in den vielen Kriegen helfen soll. Das Christentum wird zur Staatsreligion dann, als mit dem Kreuzeszeichen 312 eine entscheidende Schlacht gewonnen wird. Das germanische Walhall ist ein Erlebnispark für die toten Krieger – die anderen Menschen sind nur düstere Schatten. Für die Griechen waren die Götter in ständigem Streit und Kampf untereinander, ihre Halbgötter zeichnen sich oft durch außerordentliche körperliche Kräfte aus. Die Olympiade war eine Art von Götterdienst für Rhea, der Tochter von Gaia und Uranos. Man nahm wohl an, dass die Wettkämpfe den Göttern gefallen würden, weil sie Kriege eben lieben.
Das Christentum scheint dieser Kampfreligion ein Ende gesetzt zu haben mit seinen Bildern vom Opfer am Kreuz und dem Aufruf zur Friedlichkeit und Nächstenliebe. Aber das ist nur eine Seite, die andere ist die des Schwerts (Mt. 10,34), und sie hat wohl in der Geschichte eine deutlichere Spur hinterlassen als die Nächsten- und Feindesliebe. Vielleicht weil sie der menschlichen Natur mehr entspricht.
Vielleicht auch ist der Sport aus diesem Grund als Zivilisierung der Feindschaft, wie etwa bei den Griechen, ein realistischerer Ansatz.
Dem insgeheimen Opferkult im Sports scheint eine geheime Lust zur Selbstauflösung zu Gunsten eines Größeren zu Grunde zu liegen. Sei es die erträumte eigene Größe, die Mutter Natur, ein (halb-)göttlicher Status. Für ein kleines Glück reicht es aber schon, die bis dahin eigenen Grenzen überwunden zu haben.

20.10.08

57 km

Zusammen mit meiner Frau, die zwischen Kilometer 33 und 50 gezweifelt hat, ob die Entscheidung für diesen Lauf die richtige war. Ich kenne ihre „Ach“ und „Wehs“, weiß, dass wenn sie morgen wieder gut drauf ist, ich leiden werde. Der Lauf ohne Zeitnahme mit ca. 100 Läufern führte bei herrlichem Herbstwetter hoch und runter 1200 Meter aufwärts, über Berg und Tal durch weite Landschaften und enge Tobel. Durch Gassen, Hohlwege, über Waldwege voll mit Wurzeln, Laub und Schotter, über Wiesen und Straßen, durch einige Dörfer, vorbei an 6 Verpflegungsstationen. Aussichten über den See, aber der Nebel versperrte den Blick auf die Alpen, so dass wir mit Grund auf den Aufstieg zum Aussichtsturm verzichten und bei Kilometer 52 jubelnd abwärts rennen konnten.

Mir hing eine relativ schlaflose Nacht
wegen Überfressung (carboloading!) im Magen – quälende Blähungen von Rosinen. Mit durchschnittlich ca. 8 Minuten je Kilometer war das Tempo aber erträglich. Heute quälen mich die Strecker im Oberschenkel, wohl infolge der Auf- und Abstiege. Irgendwo, so um die 35 hat der Genuss an der Strecke aufgehört. Heute kommen mir aber wieder die schönen Bilder der Strecke ins Bewusstsein.

14.10.08

NATUR ALS DAS GROßE ANDERE

Wenn Natur zu einer individuellen spirituellen Erfahrung wird, ein Mensch in der ihn umgebenden Natur aufgeht, oder er sie sich zueigen macht, oder sie ein Teil von ihm selbst wird, dann wird die Grenze zwischen Ich und Außen teilweise aufgelöst.
Zunächst ist aber Natur ganz und gar nicht freundlich:
bedeutet Kampf mit ihr um Überleben. Natur bedroht uns mit Kälte, Trockenheit, Unwetter, Katastrophen, Untieren, Gift und Krankheiten usw.

In Kontakt „treten“ mit der Natur:
Zunächst ist die Natur außerhalb, dann treten wir in Kontakt mit der Natur. Über die Augen, über die Haut. Die Augen mit dem Blick in die Ferne können sich entspannen. (Meine Kurzsichtigkeit geht nach längerem Aufenthalt im Freien zurück.) Die Haut spürt die Sonne, den Regen, den Wind, die Kälte. Es ist wie berührt werden.
Man ist von der Natur umgeben wie von einem Organismus im vorgeburtlichen Zustand. Manche erleben das als Geborgenheit, andere als zu sich selber kommen, andere als Selbstauflösung.
Der Läufer spürt allerdings immer die Differenz, das Widerständige. Da ist sein Körper, der gegen innere Widerstände bewegt werden muss, oder da sind äußere Widerstände: Wetter, Steine, Berge und anderes mehr. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit und Erfahrung steht auch weniger die Natur als sein eigener Körper. Da ist der Rhythmus des Laufens, der Wechsel der Landschaft, das ständige Fortschreiten, die Bewegung im Gegensatz zum Stillstand, die Lust an der ständigen Veränderung.
Der Rhythmus vermittelt zwischen Stillstand und Zerfall im Chaos: die Zeit zerstört alles, durch den Rhythmus wird das Vergangene auf neuem Niveau wiederhergestellt.
Ist die Erde eine Trommel, auf die der Läufer seinen Rhythmus schlägt? Oder ist er die Trommel, die sich bewegt im Rhythmus wie die Erde auf seine Füße schlägt und ist er der vibrierende Teil, Resonanz der Erde. - Es geht ineinander über, ist Interaktion, Austausch, wechselseitige Beziehung, unklar was aktiv und passiv ist. Ähnlich wie beim Singen, wo der Körper zum Resonanzkörper der Stimmbänder wird, ist beim Laufen der Körper schwingender und federnder Teil, ebenso wie er aktiv ist.

Die Natur umgibt uns wie der Mutterleib den Embryo. Es ist ein vorsprachlicher Zustand und ein Kontakt, wo noch nicht eine Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Individuen besteht, sondern einer sich im anderen auflöst. Angenommen es gäbe da eine große harmonische Einheit mit der umgebenden Welt, so wäre dies ein Grund in schwierigen Zeiten – dann, wenn Beziehungen abbrechen, wenn man allein ist – wieder zu dieser Urerfahrung zurückzugehen und sich in die Identifikation mit dem umfassenden Großen Anderen zu begeben. Er hat nichts zu tun mit der Beziehung zu einem bestimmten Menschen, es ist eine ursprüngliche Lebenserfahrung, nicht definierbar.
Aber diese Erfahrung schließt andere Menschen aus, ist nicht mitteilbar, es geht darum nur bei sich selbst zu sein. (
Uranos, Sohn des Akmons, des „Unermüdlichen“, verhindert bei Gaia die Geburt anderer Kinder, er will der Einzige sein.) Der Traum des Läufers ist der Herr der Strecke zu sein, er begibt sich in Konkurrenz zu den anderen Läufern. Die Erfahrung des Laufens gibt ihm Selbstvertrauen und Kraft, er fühlt sich mit seinen Leistungen überlegen.
Dieser „Rekurs“ auf die Urerfahrung kann Teil einer Größenphantasie sein, wenn er gelingt und Euphorie auslösen, aber auch Anlass zu Verzweiflung und Depression sein, wenn er misslingt oder durch die Schwere und Strahlkraft der negativen Erfahrungen nicht möglich ist.
In die Größe der Natur lässt sich die eigene Größe fantasieren.

08.10.08

EIN KLEINER ULTRA

Zur Vorbereitung eines Marsches über 57 km nächste Woche haben wir einen Trainingslauf zum nächsthöchsten Berg in der Region hier gemacht. Mal gejoggt, mal bergauf gegangen. Ca. 960 Meter ging es hoch über Berg und Tal. Am Anfang war es noch 4 Grad kalt, dann blies der Föhn, klärte die Sicht, wärmte auf. Auf dem Ziel dann Sicht über den See, von der Zugspitze bis zum Tödi. Beim Rückweg dann auf blauem Hintergrund die verschneiten Alpen, während von Westen schon der Föhn mit seiner feuchten Warmluft eintrübte. Am Schluss waren es nach brutto 6 Stunden - inklusive Vesperpause, 2kg Nüsse Sammeln, Fotografieren usw. – etwas über 45 km.

03.10.08

NATUR UND SPIRITUELLE ERFAHRUNG

In einer Sendung des Schweizer Rundfunks DRS 2 Reflexe gab es einen Podcast über Landschaftserfahrung. Diskutiert wird darin eine Umfrage, bei der 41 Prozent der Schweizer in Natur einen Ort der Spiritualität sehen, dagegen nur 14 Prozent die Kirche. (In der Suisse Romande sind es übrigens nur um 20 Prozent, für die Natur Ort spiritueller Erfahrung ist.)
Was ist aber spirituelle Erfahrung in der Natur? Bei der Diskussion fallen Begriffe wie die Erfahrung von sich selbst in einem größeren Zusammenhang, der Identifikation mit der Natur, der Natur als übergreifenden lebenden Organismus, als Äußerung göttlicher Schöpfung. Es ist also nicht nur eine Erfahrung der eigenen Person, sondern es geht um eine Identifikation, vielleicht sogar Verschmelzung mit der umgebenden äußeren Natur.
Aber diese Identifikation, etwa in dem Gefühl, dass wir ein Teil dieser Natur sind, ist nur eine Fantasie, ein Wunsch. In Wirklichkeit sind wir außerhalb der Natur, ihr gegenüber fremd. Sie ist keine Person, kommuniziert nicht mit uns, wir sind ihr gleichgültig. Auch wenn wir selber Natur haben.
Was wird nun auf die Natur projiziert? Es gibt bei den sogenannten „spirituellen“ Erfahrungen zwei ineinander übergehende Typen: Entweder ist es die Erfahrung eines Großen Anderen oder das eigene Selbst verschmilzt mit der Umgebung; das wäre dann die Erfahrung der eigenen Größe und Bedeutung.
Die meisten Menschen haben wohl dann ein intensives Naturerlebnis, wenn sie das Gefühl einer Zugehörigkeit zu der sie umgebenden Natur empfinden. Dann wird die ansonsten fremde Umgebung zueigen gemacht, sie gehört, wenn auch nur wenige Momente, dem Wanderer oder Läufer allein. Auf der Höhe eines bestiegenen Berges „erschließt“ oder öffnet sich die Landschaft und es ist wie eine vorübergehende Besitznahme.
Solche Erfahrungen sind vorübergehend. In der Regel ist der Wanderer, der Läufer, der Entdecker Fremder und erlebt sich als getrennt von der Natur. Die Heimatlosigkeit hat ihn ausziehen lassen. „Fremd bin ich ausgezogen, fremd kehr ich wieder heim“ heißt es in einem meiner
Lieblingslieder. Die fremde Landschaft muss erlaufen, erobert, angeeignet werden. Das, was nach dem Lauf hinter uns liegt, geht wieder verloren.
Läuft man die immergleiche Strecke, hat das wohl zwei Gründe, zum einen erleichtert es die Konzentration auf sich selbst, die eigenen Gedanken und Gefühle, zum anderen ist es eine Art von Kontrolle eines imaginären Landbesitzes. Ihn mit anderen teilen zu müssen mag angenehm oder ärgerlich sein.
Kann man mit anderen Menschen eine spirituelle Naturerfahrung teilen?
Selten hat man die gleichen Stimmungen und Einstellungen. Naturerfahrungen sind in der Regel individuelle Erfahrungen vereinzelter Menschen. Erlebnisse von Gemeinschaft sind ganz anderer Art. Sie verbinden.