14.10.08

NATUR ALS DAS GROßE ANDERE

Wenn Natur zu einer individuellen spirituellen Erfahrung wird, ein Mensch in der ihn umgebenden Natur aufgeht, oder er sie sich zueigen macht, oder sie ein Teil von ihm selbst wird, dann wird die Grenze zwischen Ich und Außen teilweise aufgelöst.
Zunächst ist aber Natur ganz und gar nicht freundlich:
bedeutet Kampf mit ihr um Überleben. Natur bedroht uns mit Kälte, Trockenheit, Unwetter, Katastrophen, Untieren, Gift und Krankheiten usw.

In Kontakt „treten“ mit der Natur:
Zunächst ist die Natur außerhalb, dann treten wir in Kontakt mit der Natur. Über die Augen, über die Haut. Die Augen mit dem Blick in die Ferne können sich entspannen. (Meine Kurzsichtigkeit geht nach längerem Aufenthalt im Freien zurück.) Die Haut spürt die Sonne, den Regen, den Wind, die Kälte. Es ist wie berührt werden.
Man ist von der Natur umgeben wie von einem Organismus im vorgeburtlichen Zustand. Manche erleben das als Geborgenheit, andere als zu sich selber kommen, andere als Selbstauflösung.
Der Läufer spürt allerdings immer die Differenz, das Widerständige. Da ist sein Körper, der gegen innere Widerstände bewegt werden muss, oder da sind äußere Widerstände: Wetter, Steine, Berge und anderes mehr. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit und Erfahrung steht auch weniger die Natur als sein eigener Körper. Da ist der Rhythmus des Laufens, der Wechsel der Landschaft, das ständige Fortschreiten, die Bewegung im Gegensatz zum Stillstand, die Lust an der ständigen Veränderung.
Der Rhythmus vermittelt zwischen Stillstand und Zerfall im Chaos: die Zeit zerstört alles, durch den Rhythmus wird das Vergangene auf neuem Niveau wiederhergestellt.
Ist die Erde eine Trommel, auf die der Läufer seinen Rhythmus schlägt? Oder ist er die Trommel, die sich bewegt im Rhythmus wie die Erde auf seine Füße schlägt und ist er der vibrierende Teil, Resonanz der Erde. - Es geht ineinander über, ist Interaktion, Austausch, wechselseitige Beziehung, unklar was aktiv und passiv ist. Ähnlich wie beim Singen, wo der Körper zum Resonanzkörper der Stimmbänder wird, ist beim Laufen der Körper schwingender und federnder Teil, ebenso wie er aktiv ist.

Die Natur umgibt uns wie der Mutterleib den Embryo. Es ist ein vorsprachlicher Zustand und ein Kontakt, wo noch nicht eine Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Individuen besteht, sondern einer sich im anderen auflöst. Angenommen es gäbe da eine große harmonische Einheit mit der umgebenden Welt, so wäre dies ein Grund in schwierigen Zeiten – dann, wenn Beziehungen abbrechen, wenn man allein ist – wieder zu dieser Urerfahrung zurückzugehen und sich in die Identifikation mit dem umfassenden Großen Anderen zu begeben. Er hat nichts zu tun mit der Beziehung zu einem bestimmten Menschen, es ist eine ursprüngliche Lebenserfahrung, nicht definierbar.
Aber diese Erfahrung schließt andere Menschen aus, ist nicht mitteilbar, es geht darum nur bei sich selbst zu sein. (
Uranos, Sohn des Akmons, des „Unermüdlichen“, verhindert bei Gaia die Geburt anderer Kinder, er will der Einzige sein.) Der Traum des Läufers ist der Herr der Strecke zu sein, er begibt sich in Konkurrenz zu den anderen Läufern. Die Erfahrung des Laufens gibt ihm Selbstvertrauen und Kraft, er fühlt sich mit seinen Leistungen überlegen.
Dieser „Rekurs“ auf die Urerfahrung kann Teil einer Größenphantasie sein, wenn er gelingt und Euphorie auslösen, aber auch Anlass zu Verzweiflung und Depression sein, wenn er misslingt oder durch die Schwere und Strahlkraft der negativen Erfahrungen nicht möglich ist.
In die Größe der Natur lässt sich die eigene Größe fantasieren.

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