29.09.08

MARATHON: KEINE GUTE ERFAHRUNG

Die Tage vorher unsicher, was ich schaffen kann. Minimum 3:30, Maximum etwas über 3:20. Nervosität, Angst, Unlust. Statt Carboloading 1kg abgenommen, auch wegen leichter Erkältung. Vor mir eine Strecke, die ich satt habe. Öde Landschaft, steinige Wege. Welchen Sinn soll es haben, nur wegen der Konkurrenz mit anderen durch die Steppe zu stampfen?
An die 800 rennen los, üblicher Kampf um Plätze. Ich versuche mich zu bremsen, trotzdem der erste Kilometer 4:20. Also locker bleiben, sich überholen lassen. Das Übliche: Leute überholen, setzen sich vor mich und werden langsamer. Die 10 mit 45:30. Ab 12 das Gefühl, dass sich die Beine versteifen. Versuche, lockerer zu laufen. Aber es ist, als würde mir der Kontakt mit der Erde fehlen, dieses lockere, schwingende in Kontakt Treten mit dem Boden. Stattdessen das Gefühl, in der Luft herumzustampfen; Kopf nach hinten gezogen.
Ich atme zu stark, bekomme Zweifel, ob ich das durchhalten kann. Ein kleiner stämmiger Typ in warmer Fliesjacke zieht langsam vorbei. Eine Zeitlang orientiere ich mich an ihm. Ein anderer überholt mich, setzt sich dann ganz dicht vor mich, ich ärgere mich, überhole ihn. Dann hängt er für 15 Kilometer an mir, hüstelt immer wieder – aber schnauft nicht so wie ich. Renne ich beim Abwärts mal los, hat er nachher den Abstand schnell wieder aufgeholt. Zuerst fühle ich mich gejagt, dann habe ich das Gefühl sein Tempomacher zu sein. Laufe ich nach rechts, zieht er auch nach rechts usw.
Halbmarathon mit 1:36. Normalerweise fängt jetzt das Rennen erst an, aber nach 30 Kilometer fühle ich mich am Ende. Endlich bei 31 treffe ich meine Frau, greife nach meinem Wundermittel: schwarzen Tee. Aber das war es dann. Meinen Hintermann kann ich ziehen lassen, aber bei mir ist die Luft raus. Mein Gott, noch 11 Kilometer. Jetzt nur noch Tragödie. Kampf gegen die Schwäche, gegen Schmerzen, gegen Defätismus, den Magen, der sich übergeben will, um Luft, um eine gerade Linie. Der Kopf zieht nach hinten, ich versuche immer wieder, ihn nach vorne zu ziehen, die Nackenmuskeln etwas zu strecken. Aber das ist nicht gut für die Koordination, der Blickwechsel bringt mich aus dem Gleichgewicht. Schließlich stürze ich und schürfe mich von oben bis unten auf. „Hinfliegen“ nennt man das hier. Die Sprechweise trifft das Abheben von der Realität und danach das Landen auf dem harten Boden der Tatsachen. Blutend geht es weiter. Kein Blick für die Leute am Rand - interessieren mich nicht, was wissen die schon.
Hoffnungen, dass ich mich erhole, Hochrechnungen, ob ich es mit 6 Minuten je Kilometer noch schaffe. Wenn es bis zum Ziel nur noch 3 Kilometer sind, kann ich vielleicht noch einmal loslegen. – Denkste, eine schweinische Steigung über eine Brücke muss ich sogar noch gehen. Einfach weiter, weiter. 5 Läufer haben mich schon locker überholt. Ist mir egal. Mehr als mein Tempo geht halt nicht. In Kurven habe ich Probleme, nicht nach links zu stürzen.
Mit 3:28 endlich im Ziel. Schwierigkeiten, stehen zu bleiben, ohne nicht nach hinten zu fallen. Ein Arzt schaut mich besorgt an; ein Läufer ist nach dem Lauf kollabiert und musste reanimiert werden.
Andererseits für nur 560 km die letzten 10 Wochen, wegen Urlaub und gebrochenem Zeh, ist das Ergebnis ja auch nicht so schlecht. Meine Tochter tröstet mich: “Du wirst älter“.

21.09.08

25 KILOMETER

Bei H. Steffny steht irgendwas von Steigerungen. Ich habe nicht herausgefunden, was er meint. War mir immer schon ein Rätsel. Da ich eine Schwäche für das Quantifizierbare habe, laufe ich bei jedem Kilometer 100 Schrittpaare etwas schneller als Renntempo. Die roten Blutkörperchen sollen durch dieses Schwellenlaufen vermehrt werden. Vielleicht nützt es was und ich habe in einer Woche was davon.

Dann, anderes Thema, bin auf Laufberichte von „Le Grand Raid de la Reunion“ gestoßen, die meine ganze Fantasie auf sich gezogen haben. Ich will alles darüber wissen. Wohl unwahrscheinlich, dass ich da hinfliege – 9500 km, eine Ökoschweinerei. Aber die Bilder und Erlebnisse faszinieren mich. Allein schon die Erfahrung, in einem „Wettbewerb“, gut versorgt und doch alleine laufen zu können, lockt mich an. Dann die Landschaft mit ihren Extremen. Ich rätsle darüber, was mich daran so anzieht. Was ist schon ein 3 oder 4-Stunden-Marathon gegen solche extremen Landschaftsläufe? Die wilde Landschaft prägt sich tief, blutig tief in die Körper der Läufer ein, wie die Apparatur in Kafkas „Strafkolonie“. Nicht nur das Leiden fasziniert, sondern auch das Auf und Runter, die Höhepunkte und überwundenen Tiefpunkte. Landschaft als Herausforderung, und Laufen als Möglichkeit sie zu erobern.
Da klingt es an: Eroberung, Kampf, Gewinnen, Verlieren.
Vielleicht kann man es aber auch Erfahrung nennen, Eintauchen in die Weite, Aufgehen in der Landschaft, Identifikation.

15.09.08

36 Kilometer

gehören zur Marathonvorbereitung. Mit etwas Bangen geschafft. Kein Blick auf die Natur. Keinen auf das Wetter. Ich war nur nass von Schweiß, als ich zurückkam. Am Abend vorher noch Magenkrämpfe, Unsicherheit, ob ich das schaffe. Aber dann am Morgen fühle ich mich wohler. Der erste Kilometer wie üblich langsam, dann wurde es schneller, um die 5 Min/km. Die ¾ Liter-Flasche mit süßem Schwarztee nach 7,5 Km abgelegt, wo ich verschiedene Runden drehe. Nach Kilometer 16 dann 10 km lang im Eiltempo, mangels Kilometerangaben zu schnell, die restlichen 10 km auslaufen.
Was geht im Kopf vor sich? Zuerst: schaffe ich es, oder muss ich Pausen einlegen oder abkürzen? Dann, als es doch recht gut läuft, die Frage, welche Zeit kann ich erreichen? Bei den 10 flotten Kilometer schwierige Rechnungen, wie schnell ich nun bin. Immer wieder vergesse ich Zahlen, muss wieder neu nachrechnen. Bei den letzten 10 die Frage, wie es wohl bei dem Marathon in 14 Tagen aussehen wird. Wenn ich jetzt schon bei diesem lockeren Tempo leide, wie werde ich erst bei einem Marathon ab km 30 leiden? Erinnerung an Läufe, wo mir jeder kleine Hügel zwischen 30 und 42 einem den Atem genommen hat, ich nur noch gegen die Müdigkeit ankämpfte, mich am liebsten neben die Strecke hingelegt hätte.
Andererseits darf es doch ruhig etwas hart sein. Beim letzten Mal machte ich zur Vorbereitung einen sehr hügeligen Lauf, war auf den letzten Kilometern kaputt – dann lief der Marathon besser als ich dachte. Ich hoffe auf den gleichen Effekt. Aber man weiß ja nie. Wenn es nicht schief gehen könnte, wäre es ja nicht der Rede wert.
Samstags treffe ich normalerweise kaum Leute, diesen Herbst ist es anders. Aber wo ich meine Runden drehe, ist Ruhe. Beim Zurücklaufen belagern welche den Bahnübergang. „Mach Platz“, sagt die Oma zu ihrem Enkel, „der will springen“. Hier ist Laufen „Springen“. Kinder rennen nicht, sie „springen“ und wenn Erwachsene Rad fahren, dann müssen sie und die anderen lächeln, weil das so ungewöhnlich und lustig ist. Auf die Verbindung von Regression und Laufen, zur Frage, wie erwachsen sind Läufer oder sind es doch nicht ein wenig Kinder, ein andermal.

06.09.08

LAUFEN WIE IN DER STEINZEIT

Klaus Schmidt, der Entdecker der 11 600 Jahre alten Anlagen von Göbekli Tepe, meint, für den Menschen damals wären 50 km zu Fuß an einem Tag kein Problem gewesen. Die Anlagen, zwischen denen sich die Jäger bewegt haben, lagen ungefähr 150 km auseinander. Es wird angenommen, dass zwischen diesen Punkten reger Verkehr stattfand.

Wenn ich laufe, dann auch mit der Idee, möglichst einfach zu leben. Das ist natürlich die Idee eines Menschen, der historisch gesehen in Wohlstand lebt und der zurückversetzt in die Steinzeit gar nicht mehr leben würde, schon weil er die durchschnittliche Lebenserwartung längst überschritten hätte, abgesehen davon dass ihm die Techniken und Kenntnisse fehlen, die er zum Überleben brauchen würde.
Trotzdem lässt sich vieles machen, ohne von den modernen Hilfsmitteln der Fortbewegung, Auto mit Öl, abhängig zu sein. Aber selbst wenn ich kein Auto habe, mich mit Gehen, Laufen, Radfahren, Bus oder Bahn vorwärts bewege, weiß ich natürlich, dass mein jetziges Leben auf der Grundlage von Öl beruht: Der Dünger für die Pflanzen, die Maschinerie in der Landwirtschaft, die Fabriken, die die landwirtschaftlichen Produkte verarbeiten, und das Transportwesen, das diese Produkte verteilt.
Dennoch ist es klar, dass wir über kurz oder lang eine andere Ökonomie benötigen, weil das Öl und sein Verbrauch in den heutigen Dimensionen zu Ende geht und wenn wir eine gerechte Gesellschaft wollen. Kurze Wege, Regionalisierung, körperliche Arbeit. Dafür ist Laufen ein Symbol, eine Fantasie, mit der ich mich in eine andere Zukunft bewege.
Das bedeutet natürlich, dass ich nur an regionalen Wettbewerben teilnehme. Ein Läufer, der fliegt, beißt sich selbst ins Bein. (?Hm?)

Ist aber ein Unterschied zwischen einer Fantasie und Realität. Während wir von einfachem Leben träumen, gar barfuss laufen, werden für diesen Sport immer weitere Strecken Auto gefahren, brauchen die Marathons immer größere Parkplätze, wird in klimatisierten Centern trainiert, entsteht eine Industrie um Outfit. Ob einfach Gehen nicht die bessere Alternative ist?

Das Foto stammt aus der Doku des
SWR. Als ich dort war, war schon alles abgebaut.

02.09.08

DER LÄUFER ALS CARDIOMASCHINE

Bei einem Trainingslauf mit meinem angepeilten Marathontempo nehme ich den Brustgurt für die Pulsuhr und stelle fest, dass ich im Durchschnitt bei Hf 166 laufe. Nach der Formel für die richtige Herzfrequenz
Hf = 20 + 0,8 Maximalpuls – 0,15 Lebensalter
müsste ich bei ca. 156 laufen. Also ist mein vorgesehenes Tempo zu schnell. Deswegen nehme ich am übernächsten Tag noch einmal die Uhr und versuche bei Hf 156 einige Kilometer zu laufen. Das Ergebnis ist, dass ich 4 Sekunden langsamer laufen müsste.

Das Beispiel zeigt, wie ich den Körper berechenbar wie eine Maschine machen will. Als ich zu laufen angefangen habe, war mit ein Grund die Sorge um Herz und Kreislauf. Ich habe oder hatte Angst, dass mein Herz und Kreislauf träge werden und irgendwann Probleme machen. Um dem vorzubeugen, müssen diese Organe wie eine Maschine gewartet und gepflegt werden. „Use it or loose it“ heißt es in der allgemeinen Propaganda fürs Laufen. Cardiotraining wird gefordert. Also werden die Herzmuskeln trainiert, die Blutgefäße in Schuss gehalten. Ist die Pumpe so stark genug, kann sie Attacken leichter bewältigen.
Hier also wieder die Maschinenvorstellung vom Körper.

Ganz anders die romantischen Vorstellungen über das Herz in den Jahrhunderten vor uns:
„Was hat es, daß es so hoch aufspringt,
Mein Herz?“ So Müller in der „Winterreise“

Der fahrende Gesell singt bei Mahler:
„Ich hab' ein glühend Messer,
Ein Messer in meiner Brust,
O weh! Das schneid't so tief
In jede Freud' und jede Lust.“

Das Herz drückt hier in seinen Bewegungen seelische Empfindungen aus. Es bewegt sich zwar nicht unbedingt im Gegensatz zum Verstand, aber anders als der Verstand ist es an menschlichen Beziehungen orientiert, öffnet sich diesen großherzig oder verschließt sich ihnen. Es ist ein Symbol für Liebe und Freundschaft. Es wird durch Schmerz und Trauer zerrissen und gebrochen. Es kann kalt werden, wenn es wie in dem Märchen von Hauff, nur noch um materielle Vorteile geht. Es kann sich verschließen zu einer Mördergrube. Es klopft schwer in Angst und steht still vor Schreck, es gerät aus dem Takt.

Ob nicht Cardiotraining das Gefühlsleben unter Kontrolle bringen soll?

Hypothese: Aktivieren durch Tempo, bremsen durch Hf-Messung. An die Stelle der Erregung in Beziehungen durch Wut, Angst, Mut und Initiative kontrollierte Coolness. Innere und äußere Natur tritt als imaginäre und diffuse Bezugsperson an die Stelle einer realen. Rückzug aus beängstigenden, erregenden und riskanten Beziehungen. Der Herzinfarkt als logische Folge einer sozialen Kränkung und Verletzung.