09.12.08

LAUFZWANG IM KOLLEKTIV

Laufen hat etwas mit Freiheit und Befreiung zu tun. Raus an die freie Luft, in die freie Natur. Die Gedanken sollen sich frei bewegen dürfen. Die Schwerkraft soll nicht herunterziehen, sondern für kurze Momente befreit man sich von ihr, um sich dann wieder (lustvoll?) fallen zu lassen. Doch als ob die Freiheit genauso die Angst hervorrufen würde, wird das Laufen wieder in Zwänge gepackt. Laufen wird zum Muss. Da mögen die Versprechungen von ewigem Leben, strahlender Gesundheit, fittem Körper, oder die Ängste vor Krankheit, Verfettung, Leistungsverfall sein. Es muss gelaufen werden. Dieser Laufzwang, eine wie beschrieben missglückte Form der Autonomie, braucht Rationalisierungen. Rationalisierungen sind Gründe, die jemand als Motive benennt, die sich recht vernünftig anhören: Gesundheit, Freude, die aber andere „irrationale“ Motive verdecken: Wut, Kampf, Dominanzstreben, Eitelkeit, die notorische Beschäftigung mit dem eigenen Selbst usw. Der Laufzwang lebt von Wahrheiten, Prinzipien, Grundsätzen, Dogmen. Sie müssen oft litaneiartig, serienartig aneinandergereiht werden. Kreislauf, Wiederkehr des Immergleichen.
So wie bei mir oft die Gedanken beim Laufen. Auch ich bin vom Zwang befallen. Aber will daraus ausbrechen. Deswegen manchmal meine Versuche von neuen Landschaftsläufen.
Die Wiederholung bietet Stabilität, vermittelt Geborgenheit und Sicherheit. Und lenkt von etwas ab, was unterhalb brodelt.
Laufzwang als missglückte Form der Autonomie bedeutet, dass ich etwas machen muss, von einem Trieb beherrscht werde. Also muss ich in mich gehen, nachforschen, was mich da antreibt. Das bedeutet: sich erfahren, seine Erfahrungen und Gefühle wahrnehmen.
Solange dem Laufzwang kollektiv gehuldigt wird, wird diese Selbsterfahrung ausgeblendet. Alles läuft ja so wunderbar. Man orientiert sich dann an Vorbildern, Trainingsplänen, an der Konkurrenz. Mit Glück und Fleiß wird man zum alten Hasen, der es den anderen zeigen kann. Das ist ein gutes Gefühl. Die Hunde, die hinter dem Hasen hinterher hecheln, wollen nun auch Hasen werden. Ihr Leben wird nun auch vom Laufzwang beherrscht, hat einen Sinn bekommen. Dass sie sich sinnlos im Kreis drehen, wird ihnen nicht in den Kopf kommen. Sie bilden eine Gemeinschaft von Gläubigen, die Zweifel ablehnen, die eigene Erfahrung unterdrücken mit affirmativen Statements.
Dieser Imperativ zum Glücklichsein ist ein Haupthindernis für die Erfahrung. Ausnahmsweise zitiere ich einen Zenmönch, Olaf Nölke alias Abt Muho in Japan, dessen Erfahrungen ich ernster nehme. Er meint: „Die Unzufriedenheit die wir spüren – ich glaube das ist eine biologische Notwendigkeit dass wir als Menschen unzufrieden sind. Aber wir verstärken diese Unzufriedenheit dadurch, dass wir glauben, wir müssten eigentlich zufrieden sein, wir müssten eigentlich glücklich sein.“ (In
SWR2 Leben). Diese Aussage ist natürlich ein Trick des Zen: Die Anerkennung des Unglücks soll das Glück erzeugen. - So meine ich es nicht. Es mag schon existenzielle Gründe für das Unglück geben, aber zuerst sollen die individuellen bewusst werden.
Nicht unsympathisch ist mir der
SchlechteLauneBlogger, selbstironisch, tolerant gegenüber den eigenen Schwächen. Nix dominus, asper, rex, vincere, corona etc. - Mir fehlt leider diese Selbsttoleranz, bin härter zu mir als wohl andere zu mir(?).

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