03.04.08

LAUFEN UND MAGERSUCHT

Anfang der 70er Jahre habe ich zum ersten Mal Magersüchtige erlebt, die um ihr Gewicht zu senken, stundenlang im Park getrabt sind. Laufen war in diesen Zeiten noch gar nicht „in“. Und Thomä beschreibt schon 1961 das Gefühl, das Magersüchtige beim Laufen erleben, als „ichferne Bewegungslust“, mit „kosmischer Hingabe an den Wind“ und Sinnesempfindungen, „die beim Schwimmen im Wasser empfunden werden“. Und auch mein Gaiaerlebnis lässt sich als eine Art von archaischer Beziehung beschreiben: einerseits der Wind, der die Haut streichelt, die Sonne, die wärmt und noch viele Empfindungen mehr. Andererseits der Läufer, der mit seinen Augen und Beinen die Natur berührt, ihr Aufmerksamkeit entgegenbringt. Diese wechselseitigen Zärtlichkeiten spielen sich auf einem vorsprachlichen Niveau ab, verweisen auf eine ursprüngliche Beziehung mit der Hoffnung auf Geborgenheit und Verbundenheit. Die Rede ist auch von einem „ozeanischen Gefühl“; nämlich aufzugehen in einem großen und umfassenden Universum.
Was hat das mit der Magersucht zu tun? Ich lege es mir so zurecht [würde aber zuerst auf die Erforschung der Empfindungen, Gedanken, Fantasien und auch Träume der Betroffenen selbst verweisen]: Beim Laufen handelt es sich um eine Art von Beziehung zu einem Gegenüber, das menschliche (etwa mütterliche) Züge ohne scharfe Konturen hat, so dass es Raum für individuelle Sehnsucht und Wunschbilder bietet. Etwa das Meer, das Gebirge, die Prärie, die weiten Ebenen usw. Der weite Raum steht im Gegensatz zu konkreten Personen mit ihrer Begrenztheit und ihren Begrenzungen, etwa der Familie usw.
Der Größe dieses Gegenübers kann man nur gerecht werden, indem man sich ganz klein, leicht macht, sich zum Verschwinden bringt. Die Fantasie dieses Großen und Grandiosen wird aufrechterhalten durch die Selbstverringerung bis hin zur Selbstaufgabe, Selbstaufopferung.
Das ist es im Extrem. Aber jeder Läufer kennt das:
- die Wahrnehmung von Wind und Wetter auf der Haut
- Wahrgenommenwerden, Beachtung von anderen
- Die Konzentration auf den eigenen Körper
- Das Verlangen nach Harmonie mit der umgebenden Natur.

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