24.06.07

01.Juni 2007 Dialektik des Laufens


Der Läufer ist ein praktizierender Philosoph. Ich will es hier beweisen. Er ist ein Dialektiker, nicht in dem Sinne, dass er Dialoge und Diskussionen mag,sondern dass er sich zwischen Gegensätzen bewegt, zwischen:
Auf und Ab, Unten und Oben
Ruhen und Bewegen
Weg und Zurück
Die Füße hebt er hoch und lässt sie fallen, in der Bewegung gibt es immer wieder einen Punkt, an dem er zur Ruhe kommt. Das ist der kurze Moment, an dem der Läufer „fliegt“, mit beiden Füßen die Erde nicht berührt. Übrigens anders als der Geher, dem vorgeschrieben ist, immer wenigstens mit einem Bein in Kontakt mit der Erde zu sein.
Weg und Zurück läuft er normalerweise, wenn er eine Runde dreht, einen Weg bis zu einem Punkt und wieder zurück läuft.
Ich will mich weiter etwas über diese Gegensätze auslassen: Nach unten zieht uns die Schwerkraft. Wenn wir laufen, arbeiten wir für kurze Zeit gegen die Schwerkraft, um dann den Fuß wieder aufzusetzen und der Schwerkraft nachzugeben. Je trauriger wir sind, desto mehr zieht uns die Schwerkraft herunter und wir können nur noch sitzen oder liegen, bestenfalls schleppen wir uns dahin, den Blick auf den Boden gesenkt. Die Toten werden in der Erde begraben, näher zu einem Zentrum der Schwerkraft.
Sind wir aber froh - das lässt sich bei Kindern besser sehen – dann springen wir hoch, vielleicht mit ausgestrecktem Körper, wir heben ab von der Erde, wir bekommen erhebende Gefühle und wir gehen voll Stolz und aufgerichtet. Früher haben die Sportler bei einem Sieg die Arme ausgestreckt und sind hoch gesprungen (heute sieht man die Faust und anstelle der Freude den Triumph über den Gegner).
In der Religion wird dieser Gegensatz als Himmel – oben – und Hölle – unten – angesprochen. Die Seele geht nach oben in einen geistigen Bereich. Der Leib dagegen ist schwer.
Der Läufer versucht aber beides in einem Rhythmus zu vereinen, in einem ständigen Wechsel von unten und oben. Die Bewegung wird wichtiger als der Ort. Manche sagen nach chinesischer Weisheit: Der Weg ist das Ziel. Das Laufen ist ein Spiel mit diesen Gegensätzen. Es ist ein Versuch, der Schwerkraft und all dem, was einen herunterzieht, ein Schnippchen zu schlagen.
Menschen, die durch ein Schicksal nach unten gezogen werden, können vom Fliegen träumen. Das kann dann mit einem Gefühl der Unabhängigkeit und Überlegenheit verbunden sein. Der Läufer ist demgegenüber ein Realist: er gibt der Schwerkraft nach und überwindet sie für kurze Momente. Aber im Glück des Laufens – in diesen kurzen Momenten – hat er das Gefühl, das niederdrückende und niederziehende überwunden zu haben. Laufen kann ja auch antidepressiv wirken. Und umgekehrt können Läufer, die durch Verletzungen daran gehindert werden, in Depressionen geraten.
Ob sich aber beim Laufen die Probleme lösen lassen, das weiß ich nicht. Vielleicht verändern sie die Einstellung zu diesen Problemen. Vielleicht schaffen sie ein neues Selbstbewusstsein, relativieren Niederlagen auf anderen Gebieten. Vielleicht schafft es aber auch neue Probleme, wie man bei mir sehen kann.

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